Mittwoch, 25. November 2015

Volkswagen Skandal: Diagnose „Gesellschafts-Schizophrenie“


Der VW-Skandal zeigt auf eindrückliche Art und Weise, dass moralischer Verfall oft ansteckend ist. Es wird nun geschätzt, dass ein paar Dutzend Mitarbeiter über Jahre direkt in den Manipulationen involviert waren, ohne dass auch nur eine einzige Person als „Whistleblower“ hervorgetreten sei. Wie es dazu genau kommen konnte, wird heute noch untersucht und darüber spekuliert. Was auch immer bei diesen Untersuchungen herauskommen wird, für mich ist dieser Fall symptomatisch für eine Wirtschaftsordnung, die die Menschen nahezu systematisch zwingt, ihre gelebten und kultivierten Werte zwischen ihrer professionellen Tätigkeit und ihrem privaten Umfeld zu trennen. Am Wochenende kümmert man sich führsorglich um die Familie oder man engagiert sich brüderlich, bzw. schwesterlich in der Kirche. Am Montag verhandelt man dann aber wieder knallhart, um den besten Preis, das höchste Salär oder den grössten Profit zu ergattern, allzu oft achtlos, ohne die weiteren menschlichen, sozialen und ökologischen Konsequenzen zu bedenken.

Natürlich sind kontextabhängige, divergierende Normen unvermeidbar, da wir je nach Situation verschiedene Rollen innehaben – sei es als Vater, Ehefrau, Tochter, Mitarbeiter oder Chefin.

Dennoch leidet eine solche Gesellschaft unter einer auf die Dauer nicht aufrecht  zu haltenden Schizophrenie, wobei die Menschen gezwungen werden zwei oft diametral entgegengesetzte Glaubenssätze zu verkörpern. So regiert in der Wirtschaft oft das Primat der Konkurrenz, gleichzeitig aber auch die soziale Anpassung (Anzug und Krawatte sind dafür ein eindrückliches visuelles Symbol). Im privaten Umfeld wiederum werden aber vor allem das Mitgefühl und die Grosszügigkeit, oftmals sogar der Altruismus, kultiviert. Verdeutlicht wird dies durch das Vokabular, das wir mit diesen beiden Lebensbereichen in Verbindung bringen:

Wirtschaft - Professionell
Familie - Privat
Erfolg
Mitgefühl
Gewinn(en)
Gemeinsinn
Vermarkten
Treue
Selbstdarstellung
Demut
Ehr(geiz)
Liebe
Hab(gier)
Teilen
Taktik
Gerechtigkeit
Konkurrenzfähigkeit
Kooperation
Zielstrebigkeit
Geduld

 Natürlich sind die Grenzen zwischen dem professionellen und privaten Lebensbereich nicht ganz so eindeutig wie oben aufgeführt, dennoch widerspiegeln sie Werthaltungen, die dort jeweils bewusst kultiviert werden. Dies widerspiegeln auch gewisse Sprichwörter: „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“, „Eine Hand wäscht die andere“ und „Kleider machen Leute“ vs. „Geteiltes Leid ist halbes Leid“, „In der Ruhe liegt die Kraft“ und „Gut Ding will Weile haben“.
Wie kann es nun zu einer Integration dieser zwei gesellschaftlichen Lebensbereiche kommen? Es präsentieren sich für mich zwei Möglichkeiten.

Erstens, die Integration auf der Makro-Ebene, wodurch die ‚Wirtschaft‘ nicht mehr als getrennte Entität fungiert, die zwar Berührungsflächen zu den anderen Teilsystemen ‚Gesellschaft‘ und ‚Umwelt‘ hat, aber trotzdem alleinstehend ist. Sondern das Ziel muss sein, die Wirtschaft als Teil der Gesellschaft zu denken, die sich wiederum in die Umwelt einfügt.

 
Ferner, auf der Meso-Ebene, sollte das Unternehmen nicht wie bis anhin im Zentrum eines Stakeholder-Netzwerkes sein, sondern der Betrieb und das Selbstverständnis einer Firma sollte schlicht nur ein Knoten inmitten etlichen weiteren, gleichbewerteten sozialen und umweltbasierten Stakeholder-Knoten fungieren.

Unternehmung im Zentrum:
 
Einbettung der Unternehmung, bzw. Organisation, in einem Stakeholdernetzwerk:

 
Letztens, bedarf es auf der Mikro-Ebene einer Integration, die bezweckt, dass Menschen befähigt werden, ihre Werte zum Ausdruck zu bringen und ihre Integrität wortwörtlich zu kultivieren. Das bedeutet, dass ein Mensch in allen Lebensbereichen das, was er als stimmig und für richtig hält, so auch auszusprechen und in einem Stakeholder-Kontext zu leben wagt. An was man glaubt, bzw. welche Überzeugungen man pflegt, sollte sich möglichst mit dem decken, was man sagt und wie man schlussendlich handelt.


Die grundsätzliche These ist somit: Je mehr die diversen Entitäten unserer Zivilisation und die verschiedenen individuellen Stakeholder einer Gesellschaft sich als integraler Teil des Ganzen wahrnehmen und dementsprechend auch befähigt sind, so zu handeln, desto mehr löst sich die schädliche „Gesellschafts-Schizophrenie“, inkl. deren unheilsamen Begleiterscheinung der individuellen „kognitiven Dissonanz“, auf. Dies wiederum führt zu mehr Verständnis und Mitgefühl für das „andere“, zu mehr „wir“ anstatt des heute dominierenden kurzfristigen „ich“-Denkens und -Handelns. Ein „wir“-Selbstverständnis, das auf unserem dicht besiedelten, kleinen Planeten vor allem heutzutage so unabdingbar für das weitere florieren aller Menschen und Lebewesen ist. Letztlich ist es auch just dieses „wir“-Selbstverständnis, das auch ganz konkret solch kurzfristigem Konkurrenzdenken, wie es bei Volkswagen zum Vorschein gekommen ist, entgegenwirkt.
Manuel Dawson

 
Konklusion aus der Stakeholder-Perspektive:

·         Das Selbstverständnis eines jeden Stakeholders, inklusive einer Firma wie VW, sollte sich nicht mehr nur darum drehen, ein „zentraler“ Knoten in einem Stakeholder-Netzwerk sein, um den sich alle anderen Stakeholder in konzentrischen Kreisen herum kreisen, sondern es muss darum gehen, ein gleichwertiger Teil eines weitläufigen, gemeinsamen Stakeholder-Netzwerks zu werden.


·         Je mehr Stakeholder sich auf der Makro-, Meso- wie auch Mikro-Ebene als ein Integraler, gleichwertiger Teil eines Ganzen wahrnehmen und dementsprechend auch befähigt werden zu handeln, umso eher kann der „Gesellschafts-Schizophrenie“ vorgebeugt werden – was wiederum der Entstehung von Skandalen wie bei VW entgegenwirkt.

 

 

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