Mittwoch, 15. Oktober 2014

Abspaltungsbewegungen aus einer Stakeholder-Perspektive

Eine der Grundannahmen des Stakeholder-Ansatzes ist, dass Macht – sei es individuelle, soziale, ökonomische oder politische – dezentral und einschliessend sein sollte. Implizit steckt darin auch die Idee, dass alle Stakeholder auch das einseitiges Recht haben, sich aus der Teilnahme an einem gemeinsamen Unternehmung zurückzuziehen. Solche Rückzüge sind häufig schwierig, sei es bei einer Scheidung oder wenn eine Firma Leute entlassen muss. Manchmal ist es gar praktisch unmöglich, zum Beispiel wenn es um einen kleinen Tante-Emma-Laden geht, welcher der Steuerpolitik seines Landes unterliegt.

Ein Bereich, in dem ein Stakeholder-Rückzug im Prinzip immer möglich ist, ist die Abspaltung einer Region des Landes von der gesamten Nation. Land kann prinzipiell in beliebig viele Stücke aufgeteilt werden. Da jedoch jeder bei einem solchen Prozess auf kurze Sicht tendenziell auch etwas verliert, sind solche Trennungen chaotische, oft gar blutige Angelegenheiten. Die grösste Welle von Separationen der letzten Jahrzehnte war das Auseinanderbrechen des sowjetischen Reiches und seinen europäischen Satelliten-Staaten. Es ist bemerkenswert, dass diese Serie von Abspaltungen trotz einigen Scharmützeln im Kaukasus relativ gewaltlos verlief. Andere Trennungen hatten in dieser Hinsicht weniger Glück – man denke an Jugoslawien.

Wenn es um die Legitimität solcher Abspaltungen geht, stellt sich jedoch eine interessante Frage. Hier gehen die Meinungen oft stark auseinander, auch innerhalb der involvierten Parteien. Während der Westen die Unabhängigkeit des Kosovos von Serbien im Grossen und Ganzen unterstützt hat, auch wenn das Gebiet vor der ottomanischen Invasion das historische Herzstück von Serbien war, wurde die Abspaltung der Krim von der Ukraine von westlichen Nationen missbilligt, auch wenn das Gebiet eine klare Mehrheit an ethnischen Russen hat. Die Geschichte der Krim ist geprägt von einem komplexen Zusammenwirken verschiedener ethnischer Gruppen, vor allem der Russen und Tartaren, während die Ukrainer eine relativ neue und geringe Rolle spielten. Es ist jedoch klar, dass die aktive Einmischung von Russland dem ganzen Unterfangen eine bittere Note verlieh.

Das Hauptargument für die Unabhängigkeit des Kosovos basierte zu grossen Teilen auf den Verfolgungen ethnischer Albaner während der Jugoslawien-Kriege. Die Unabhängigkeit des Kosovos würde deshalb den Kriterien der „Just Cause Theory“ entsprechen, die besagt, dass Abspaltungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn damit eine grobe Ungerechtigkeit berichtigt werden kann. Dasselbe liesse sich kaum über die ethnischen Russen der Krim sagen, weshalb die Abspaltung und anschliessende Annexion der Krim von Russland von einer anderen ethischen Theorie untermauert werden müsste, nämlich von der „Choice-Theorie“, die im Grunde besagt, dass Mehrheiten immer gewinnen. Die „Choice-Theorie“ hätte auch zur Legimitation der schottischen Unabhängigkeitsbewegung dienen können, da man nicht argumentieren kann, dass die Schotten grobes Unrecht erlitten, weil sie Mitglieder des Vereinigten Königreichs sind.

Egal aus welcher ethischen Warte man die genannten Beispiele betrachtet, stellen alle nationalen Abspaltungsbewegungen einen fundamentalen Konflikt in Stakeholder-Beziehungen dar: Denjenigen um eine gerechte Beurteilung der Rechte, die Stakeholder haben, eine Beziehung einseitig zu beenden. Der springende Punkt ist deshalb, unter welchen Bedingungen es ‚okay’ ist, zur Steigerung seines eigenen Wohls so zu handeln, wenn man dabei gleichzeitig das Wohl eines anderen Stakeholders gefährdet. Auf den ersten Blick erscheint der einseitige Rückzug eines Stakeholders völlig legitim, wenn die Teilnahme an einem grösseren Unterfangen ihm in seinen Augen schadet. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass Unilateralismus meist auch Auswirkungen auf die anderen Parteien hat, seien es positive oder negative. Wenn die Schotten für eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich gestimmt hätten, hätte dies erhebliche - vorteilhafte oder negative - Folgen für beide Parteien gehabt.

Manuel Dawson

 

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