Eine implizite Annahme des Leadership-Ansatzes der
Stakeholder View ist, dass Führungspersonen möglichst empathisch, freundlich
und „nett“ zu sein haben. Man lässt sich auf die Mitarbeiter als Individuen ein,
berücksichtigt fortwährend ihre Bedürfnisse und Gefühle und arbeitet gezielt auf
ein harmonisches Arbeitsklima zu. Eine Legitimation erhält dieser
Leadership-Ansatz in der Geschichte unserer Spezies: Der Triumphzug des Homo sapiens auf der Erde beruht nicht
zu Letzt darin, dass Menschen eine überaus hochentwickelte Fähigkeit zur integrativen
Kooperation besitzen, wobei Empathie, Rücksichtnahme und eine Bändigung von übermässigen
Dominanzgebaren ein unabdingbarer Teil davon sind. Dennoch stellt sich die Frage
ob ein angenehmer, integrativer Führungsstil der Innovationfähigkeit einer Organisation
optimal dient. Denn höchst erfolgreiche Führungspersönlichkeiten wie Steve Jobs
(Apple), Andy Groves (Intel), Jeff Bezos (Amazon) und auch Bill Gates (Microsoft) waren bekanntermassen
alles andere als angenehm zum Zusammenarbeiten.
Inkrementelle vs. bahnbrechende
Innovation
Bahnbrechende Innovation bedarf z.T. radikal anderer Ingredienzen
als inkrementelle Innovation. Meine eigene durchaus „unangenehme“, obgleich
äusserst anregende Zeit in einer ausserordentlich erfolgreichen israelischen
Hi-Tech Firma wird mir in diesem Zusammenhang vergegenwärtigt. Die geradezu tragikomische
Art wie die drängende, direkte, oftmals regel-umgehende israelische Verhaltensweise
auf die fortwährend bedächtige, höfliche, normhuldigende Arbeitskultur unserer
japanischen Vertreter prallte, verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise diese
unterschiedlichen Innovationskulturen. Während die Japaner uns brav fast
wöchentlich einen kleinen, aber detaillierten Verbesserungsvorschlag für unsere
Produkte unterbreiteten, so lancierten die Israeli am Laufmeter vollkommen neue
Produkte, wobei locker in Kauf genommen wurde, dass ein erheblicher Teil davon
ein absoluter Flop sein würden – nicht nur im Markt, aber auch rein technisch.
Meinungen wurden oft mit beachtlichen, für die noch nicht darin Eingeweihten zuweilen
beängstigenden emotionalem Nachdruck klipp und klar geäussert und energisch debattiert.
Jeder Tag war eine neue emotionale Achterbahn, wobei das eigene Ego entweder unzimperlich
überrollt wurde, oder sonst bereits mit so viel Hornhaut überzogen war, dass
man begann, die tagtägliche Konfrontation sportlich zu geniessen.
Destruktive vs.
Konstruktive Konfrontation
Der Clou an dieser sprudelnden Kreativität war aber, dass es
bei diesen freimütigen Konfrontationen (Andy Grove nannte dies „constructive
confrontation“) um Meinungen und Ideen ging, nicht aber um die Personen an sich
und dass jeglicher „Gewinn“ (wie auch Verlust) immer mit den direkt
involvierten Stakeholdern geteilt wurde – also ganz im Sinne der Stakeholder
View. Sobald die Konfrontationen auf die Personen gerichtet und Gewinne
egoistisch gehortet wurden, degenerierte dieser Modus Operandi aber und schlug
schnell ins rein Destruktive um. Auch dies durfte ich miterleben, denn die
Firma wurde bedauerlicherweise schliesslich durch aggressive, kurzfristig
handelnde und unersättliche Investoren auseinandergerissen.
Friedlich-harmonisch
vs. spanungsgeladen-kreativ?
Kreativität nährt sich oft von Spannung und bedarf die
Kapazität, auch unangenehme Situationen aushalten zu können. Man kann sie sogar
mit einer „empathischen Provokation“ gezielt fördern. Welcher Modus Operandi
für eine Person, Organisation oder sogar Volkswirtschaft am geeignetsten ist,
hängt vom Charakter der involvierten Stakeholder, der Marktnische einer Firma,
der Leitkultur eines Landes und dem spezifischen Timing ab. Es gibt also kein einfaches
Patentrezept für Führungspersonen, die eine Stakeholder-Strategie umsetzen und
zu leben trachten. Letztendlich gilt es abzuwägen, welche Werte und Ziele Vorrang
haben: ein harmonisches, friedliches Umfeld, oder ein zwar spannungsgeladenes, aber
sprudelnd kreatives. De Füfer und
s’Weggli kann man bekannter Weise nicht haben.
Konklusion aus der Stakeholder-Perspektive:
·
Gelungenes
Leadership bedarf immer eine Antwort auf die Frage, „Führung mit welchem
Ziel?“. Solange Führungskräfte die involvierten Stakeholder bei Erfolgen und
Misserfolgen einbeziehen und nicht nur ihr eigenes Ego oder Geldbeutel füttern,
kann gute Führung mitunter für die involvierten Stakeholder auch unangenehm
sein.
·
Gelungene
Führung im Dienst einer Organisation, wie auch der Gesellschaft als Ganzes,
bedarf ein Balanceakt zwischen grundlegender Erneuerung und inkrementeller
Weiterentwicklung, welche z.T. unterschiedliche Vorgehensweise und Kompetenzen
voraussetzen.
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