Dass CSR nicht gleich CSR ist – und auch nicht sein sollte –, ist mir diesen Sommer wieder einmal klar geworden. Im August war ich an der weltweit wichtigsten Managementforschungs-Konferenz, die diesjährig mit rund 11‘000 Teilnehmenden in Vancouver stattfand. Ein kleiner Teil davon – und hier zähle ich mich dazu – interessiert sich aus wissenschaftlicher Perspektive für CSR. Auch wenn eigentlich vereint in der „Sache“, fühlte ich mich als Europäer unter all den Nordamerikanern nicht immer verstanden.
Debatte: Gay Pride und Unternehmensverantwortung?
Zum Beispiel waren wir in
einer Debatte, in die ich in einer der zahlreichen „social hours“ verwickelt wurde,
völlig uneins. So erzählte ich von der Vancouver Gay Pride, der ich zufällig am
Wochenende vor der Konferenz beiwohnte. Ich schilderte, wie beeindruckt ich war,
dass sich Familien schon Stunden vor der Parade am Strassenrand säumten, um der
LGBT-Gemeinschaft
ihre Unterstützung im Kampf um gleiche Rechte kundzutun. Ein wahres Volksfest! Ich
erzählte aber auch, wie heuchlerisch ich es fand, dass nebst all den
unterschiedlichsten LGBT-Organisationen auch Unternehmen wie Amazon ihre Mitarbeitenden
auf die Strasse schickte, um für LGBT-Rechte einzustehen. Ich argumentierte,
dass dies nicht unter die unternehmerische Verantwortung von Amazon fällt. „Statt
zielgerichtetes, aber günstiges Reputationsmanagement zu betreiben, in dem sie für eine gute Sache einstehen“, so
argumentierte ich polemisch, „solle Amazon gescheiter endlich Gewerkschaften als Sozialpartner akzeptieren“.
Ich blieb unverstanden.
„Explizites“ vs. „implizites“ CSR
Im Nachhinein fiel mir
wie Schuppen von den Augen, dass sich in der unterschiedlichen Interpretation
der unternehmerischen Verantwortung von Amazon genau das manifestiert hat, was
die beiden (europäischen) CSR-Forscher Dirk Matten und Jeremy Moon als „explizites“ vs. „implizites“ CSR definiert haben. Während ersteres das
ist, was gemeinhin als „normales“ (nordamerikanisch-geprägtes) CSR verstanden
wird, bezeichnen sie mit zweiterem das, was in Europa historisch gewachsen die
Unternehmensverantwortung ausmacht und meist unausgesprochen, eben implizit, bleibt.
„Implizites“ CSR der Schweizer Unternehmen: Eine Erfolgsgeschichte
Dazu gehört zum
Beispiel der in der Schweiz so genannte Arbeitsfrieden, der historisch unglaublich
bedeutsam ist und den die Arbeitgeber mehr oder weniger freiwillig mit den Gewerkschaften
eingegangen sind.
Ebenso fällt darunter unser im 20. Jahrhundert aufgebautes
Sozialversicherungssystem, in das die Unternehmen gesetzlich verpflichtend eingebunden
sind. Oder auch das duale Berufsbildungssystem, in dem die Unternehmen als Lehrbetriebe die Fachkräfte von morgen ausbilden und um das uns viele Länder beneiden.
Im Vergleich zum
angelsächsisch geprägten „expliziten“ CSR zeigt sich im „impliziten“ die
Unternehmung so nicht als Einzelkämpfer, der freiwillig Gutes tut
oder auf aufkommende Stakeholder-Erwartungen reagiert oder präventiv
antizipiert. Ganz im Gegenteilt ist die Unternehmung in dieser Konzeption in
einem komplizierten, historisch gewachsenen Netzwerk von Stakeholder-Beziehungen
(Unternehmensverbände, Gewerkschaften, politische Parteien und nicht zuletzt
dem „Staat“) eingebettet, in dem sie auf Konsensfindung angewiesen ist, da das
Kollektiv die „Unternehmensverantwortung“ als solches aushandelt und definiert.
„Explizites“ CSR als weiteres Einfallstor für marktliberales Gedankengut?
Der eingangs
angesprochene Kampf um die Deutungshoheit über CSR in der Schweiz berücksichtigt
diese schweizerische Tradition in CSR kaum. Eine Schweizer Debatte allerdings,
die nur an dem angelsächsisch geprägten CSR-Verständnis anknüpft, läuft
paradoxerweise Gefahr, ein weiteres Einfallstor für marktliberales Gedankengut aus
Übersee zu öffnen. Damit verbunden ist ein Wandel der historisch gewachsenen Institutionen: Betont wird neu die uneingeschränkte Handlungsfähigkeit der
einzelnen Unternehmung. Zurückgestuft wird die Bedeutung des (bereits seit einiger Zeit in
Auflösung begriffenen) historisch entstandenen Netzwerks, das Solidarität und
Gemeinschaftssinn in die Stakeholder-Beziehungen eingewoben hat.
"Implizites" CSR bewahren, Standortattraktivität auch für künftige Generationen sichern
Vor diesem Hintergrund ist zu hoffen, dass die oben angesprochenen Verbände, die vor allem „Unternehmenssteuern runter!“ auf ihre Fahnen geschrieben haben, auch wirklich ernst meinen, was sie in ihrem Positionspapier schreiben: Zur unternehmerischen Verantwortung gehört „Steuern bezahlen“ (S. 6) – und zwar stolz. Denn das komplizierte Schweizer System von Unternehmensverantwortung, das so genannte "implizite" CSR, beruht auf einem starken, solid finanzierten "Staat". Dieses System garantiert die Schweizer Standortattraktivität, nicht etwa losgelöste Faktoren wie "tiefe Steuern". Dafür müssen wir Sorge tragen. Nicht dass auch hierzulande Unternehmen irgendwann freiwillig ihren Arbeitnehmenden eine Sozialversicherung bezahlen ... können, wenn sie denn wollen.Die "Stakeholder View": Lessons learned
- In der Stakeholder View ist die Unternehmung kein ‚heroischer‘ Macher, sondern eingebunden in ein historisch gewachsenes Stakeholder-Netzwerk, in dem formell und informell die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmung ausgehandelt wird.
- In der Stakeholder View ist der Staat (in all seinen Gewändern) nicht einfach ein weiterer Stakeholder unter vielen (wie Kunden, Lieferanten, Mitarbeitende, etc.), sondern ein „spezieller“ Stakeholder. Im europäischen Kontext gilt traditionell die Losung: Politik vor Wirtschaft.
- Im internationalen Kontext erachte ich „explizites“ CSR auch für Schweizer Unternehmen als unverzichtbar. CSR-Initiativen schaffen dort, wo z.B. kein stabiles formelles Rechtssystem herrscht, verbindliche Richtlinien (z.B. zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Produktionsländern).
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