Ein Bereich, in dem ein Stakeholder-Rückzug im Prinzip immer möglich ist, ist die Abspaltung einer Region des Landes von der gesamten Nation. Land kann prinzipiell in beliebig viele Stücke aufgeteilt werden. Da jedoch jeder bei einem solchen Prozess auf kurze Sicht tendenziell auch etwas verliert, sind solche Trennungen chaotische, oft gar blutige Angelegenheiten. Die grösste Welle von Separationen der letzten Jahrzehnte war das Auseinanderbrechen des sowjetischen Reiches und seinen europäischen Satelliten-Staaten. Es ist bemerkenswert, dass diese Serie von Abspaltungen trotz einigen Scharmützeln im Kaukasus relativ gewaltlos verlief. Andere Trennungen hatten in dieser Hinsicht weniger Glück – man denke an Jugoslawien.
Wenn es um die Legitimität solcher Abspaltungen
geht, stellt sich jedoch eine interessante Frage. Hier gehen die Meinungen oft
stark auseinander, auch innerhalb der involvierten Parteien. Während der Westen
die Unabhängigkeit des Kosovos von Serbien im Grossen und Ganzen unterstützt
hat, auch wenn das Gebiet vor der ottomanischen Invasion das historische Herzstück
von Serbien war, wurde die Abspaltung der Krim von der Ukraine von westlichen
Nationen missbilligt, auch wenn das Gebiet eine klare Mehrheit an ethnischen
Russen hat. Die Geschichte der Krim ist geprägt von einem komplexen Zusammenwirken
verschiedener ethnischer Gruppen, vor allem der Russen und Tartaren, während
die Ukrainer eine relativ neue und geringe Rolle spielten. Es ist jedoch klar,
dass die aktive Einmischung von Russland dem ganzen Unterfangen eine bittere
Note verlieh.
Das Hauptargument für die Unabhängigkeit des
Kosovos basierte zu grossen Teilen auf den Verfolgungen ethnischer Albaner
während der Jugoslawien-Kriege. Die Unabhängigkeit des Kosovos würde deshalb
den Kriterien der „Just Cause Theory“ entsprechen, die besagt, dass
Abspaltungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn damit eine grobe
Ungerechtigkeit berichtigt werden kann. Dasselbe liesse sich kaum über die
ethnischen Russen der Krim sagen, weshalb die Abspaltung und anschliessende
Annexion der Krim von Russland von einer anderen ethischen Theorie untermauert
werden müsste, nämlich von der „Choice-Theorie“, die im Grunde besagt, dass
Mehrheiten immer gewinnen. Die „Choice-Theorie“ hätte auch zur Legimitation der
schottischen Unabhängigkeitsbewegung dienen können, da man nicht argumentieren
kann, dass die Schotten grobes Unrecht erlitten, weil sie Mitglieder des
Vereinigten Königreichs sind.
Egal aus welcher ethischen Warte man die
genannten Beispiele betrachtet, stellen alle nationalen Abspaltungsbewegungen
einen fundamentalen Konflikt in Stakeholder-Beziehungen dar: Denjenigen um eine
gerechte Beurteilung der Rechte, die Stakeholder haben, eine Beziehung
einseitig zu beenden. Der springende Punkt ist deshalb, unter welchen
Bedingungen es ‚okay’ ist, zur Steigerung seines eigenen Wohls so zu handeln,
wenn man dabei gleichzeitig das Wohl eines anderen Stakeholders gefährdet. Auf
den ersten Blick erscheint der einseitige Rückzug eines Stakeholders völlig
legitim, wenn die Teilnahme an einem grösseren Unterfangen ihm in seinen Augen
schadet. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass Unilateralismus meist
auch Auswirkungen auf die anderen Parteien hat, seien es positive oder negative.
Wenn die Schotten für eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich gestimmt
hätten, hätte dies erhebliche - vorteilhafte oder negative - Folgen für beide
Parteien gehabt.
Manuel Dawson
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